Yogaphilosophie und die Yamas

Wie wir durch ein harmonisches Miteinander zu mehr Frieden beitragen können

Im Yoga Sutra von Patanjali eröffnet sich ein Pfad, der weit über die Yoga-Praxis auf der Matte hinausgeht – der achtgliedrige Yoga-Pfad, ein umfassender Leitfaden für persönliches Wachstum, ethische Ausrichtung und inneren Frieden. Dieser Pfad, der in acht Stufen unterteilt ist, führt uns auf eine Reise zur Selbsterkenntnis und zur Verbindung mit dem Leben um uns herum. Die ersten beiden Stufen, die Yamas und Niyamas, legen die ethische und persönliche Basis dieses Weges und laden uns ein, achtsamer mit unserer Umwelt und uns selbst umzugehen.

Die Yamas (Ahimsa, Satya, Asteya, Brahmacharya, Aparigraha) richten unseren Blick nach außen und zeigen uns, wie wir durch ein harmonisches Miteinander zu mehr Frieden beitragen können. Die Niyamas (Saucha, Santosha, Tapas, Svadhyaya, Ishvara Pranidhana) hingegen beziehen sich auf die innere Haltung und helfen uns, eine liebevolle und reflektierte Beziehung zu uns selbst zu pflegen. 

In diesem Artikel werden die Yamas, die äußeren Werte des Yoga, vertieft, und es werden Anregungen gegeben, wie sich diese Grundsätze in den Alltag integrieren lassen. Auf diese Weise kann die Essenz des Yoga nicht nur auf der Matte erfahren, sondern als Weg der Achtsamkeit und des bewussten Miteinanders in das Leben eingebunden werden.

1. Ahimsa: Gewaltlosigkeit in allen Aspekten unseres Lebens

Im engeren Sinne bedeutet Ahimsa, keine anderen Lebewesen zu verletzen oder gar zu töten. Doch um Ahimsa wirklich zu verkörpern, gehen wir über diese wörtliche Interpretation hinaus: Gewaltlosigkeit erstreckt sich nicht nur auf physische Handlungen, sondern auch auf unsere Gedanken, Gefühle und Worte. Ahimsa lädt uns ein, uns unserer Neigung zu unfreundlichem Verhalten, schädlichem Denken und verletzender Sprache bewusst zu werden und stattdessen Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen zu üben.

Viele Yogis praktizieren Ahimsa, indem sie sich vegetarisch ernähren und darauf verzichten, andere Lebewesen zu verletzen. Ist es zum Beispiel gewaltfrei gegenüber uns selbst, wenn wir uns bewusst mit Angst, Stress oder Schlaflosigkeit belasten, indem wir Horrorfilme schauen? Auch der Konsum von disharmonischer Musik oder Büchern, das Festhalten an negativen Gedanken und Emotionen kann ein Verstoß gegen Ahimsa sein.

Ahimsa – Ein Akt der Selbstliebe

Gewaltlosigkeit richtet sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Das Praktizieren von Ahimsa bedeutet, uns selbst mit Freundlichkeit und Mitgefühl zu behandeln. Für viele Menschen ist diese innere Gewaltlosigkeit oft herausfordernder als die äußere. Gerade auf der Yogamatte kann dies spürbar werden, wenn wir uns zu härterem Arbeiten oder zu größeren Dehnungen drängen und dabei womöglich unsere eigenen Grenzen überschreiten. Ist dieses Streben nach Perfektion nicht eine Form der Aggression gegen uns selbst?

Wenn der Drang entsteht, Grenzen gedankenlos zu überschreiten, lohnt es sich, innezuhalten und zu beobachten, was in diesem Moment wirklich geschieht. Zeigt der Körper Widerstand, ist es hilfreich, bewusst an der Schwelle der Komfortzone zu bleiben, anstatt sie zwanghaft zu übertreten.

Ahimsa im Alltag – Liebevolle Achtsamkeit

Wie werden die Zähne geputzt? Wie erfolgt der Umgang mit sich selbst und anderen? Wie wird kommuniziert? Ahimsa bedeutet weit mehr als das bloße Gebot, nicht zu töten – es sendet eine umfassende positive Botschaft der Liebe aus. Selbstliebe und Liebe zu allen Wesen sind die Grundlage des klassischen Yoga.

Eine Woche lang Ahimsa im eigenen Leben zu üben und dabei zu reflektieren, kann wertvolle Einsichten bieten:

  • Welche Beobachtungen wurden gemacht?
  • In welche Bereiche des Lebens könnte mehr Gewaltlosigkeit integriert werden?
  • Was hat dieses Experiment offenbart?
  • Welche Wirkung hatte dies auf die Yogapraxis?

2. Satya: Die Praxis der Wahrhaftigkeit

Der zweite Yama in Patanjalis Yoga Sutras ist „Satya“ – Wahrhaftigkeit. Doch Satya bedeutet weit mehr, als einfach „nicht zu lügen“. Es ist eine tiefere Praxis, die alle Aspekte unseres Lebens umfasst und uns zu einer ehrlicheren, klareren und liebevolleren Kommunikation einlädt.

Alle großen spirituellen Lehren betonen, wie mächtig die Worte sind, die wir wählen. Sie haben die Kraft, unser Bewusstsein zu beeinflussen und die Realität zu gestalten, die wir erfahren. Wenn wir Satya wirklich leben wollen, geht es nicht nur darum, die Wahrheit zu sagen, sondern auch darum, unsere Worte mit Bedacht zu wählen – so, dass sie im Einklang mit dem ersten Yama, Ahimsa (Gewaltlosigkeit), stehen. Patanjali und seine Kommentatoren betonen, dass keine Worte die Wahrheit widerspiegeln können, wenn sie nicht aus einem Geist der Gewaltlosigkeit und Mitgefühl stammen.

Satya in der Kommunikation: Achtsamkeit im Sprechen

Ein wesentlicher Schritt, um Satya zu praktizieren, ist es, langsamer zu werden, zu filtern und unsere Worte sorgfältig zu überdenken. Anstatt vorschnell zu urteilen, könnten wir lernen, Beobachtungen von Bewertungen zu unterscheiden. Ein Satz wie „In diesem Zimmer herrscht Chaos“ stellt ein Urteil dar. Stattdessen könnte formuliert werden: „In diesem Zimmer liegt schmutzige Wäsche auf dem Boden.“ Der Unterschied ist subtil, aber bedeutsam – der erste Satz drückt ein Urteil aus, der zweite eine objektive Beobachtung.

Durch die Praxis von Satya erkennen wir, dass jedes Urteil, das wir fällen, uns und andere in Kategorien einordnet, die in Wahrheit nicht existieren. Wenn wir jemanden als „schlechte Person“ bezeichnen, verlieren wir das Verständnis dafür, dass eine Person weit mehr ist als unsere Beurteilung. „Schlecht“ ist nur eine Interpretation von Verhalten, das uns nicht gefällt. Solche Urteile – laut oder leise ausgesprochen – entsprechen nicht Satya. Wenn wir lästern oder über andere negativ sprechen, verletzen wir sowohl Ahimsa als auch Satya, weil wir nicht wissen, warum jemand auf eine bestimmte Weise gehandelt hat oder was in seinem Inneren vor sich geht.

Wähle inneren Frieden über Recht zu haben

Satya bedeutet auch, sich bewusst zu werden, dass wir oft nicht die „absolute Wahrheit“ kennen. In Diskussionen und Auseinandersetzungen geben wir oft unseren inneren Frieden und unsere Energie auf, nur um „Recht zu haben“. Stattdessen können wir lernen, uns der Wahrnehmung bewusst zu werden, dass unsere Wahrheit nur unsere eigene ist und dass die andere Person ihre eigene Wahrheit hat. Die „reine“ Wahrheit ist in der Regel eine unbewertete, sachliche Situation – frei von subjektiven Interpretationen.

Ehre dein Wort

Satya bedeutet auch, dem eigenen Wort treu zu bleiben. Versprechen sollten eingehalten werden. Ist dies nicht möglich, sollte dies rechtzeitig kommuniziert werden. Integrität entsteht, wenn Worte und Taten übereinstimmen – ein Wort, eine Tat. Auf diese Weise wird das eigene Wort zu einem starken Vertrag, auf den sich andere verlassen können.

Satya zu uns selbst

Oft identifizieren wir uns vollständig mit unseren Emotionen und irrationalen Gedanken. Wahre Ehrlichkeit mit uns selbst erfordert jedoch Raum und Stille, um die Wahrheit jenseits dieser reaktiven Gedanken zu erkennen. Wenn wir impulsiv auf Situationen reagieren, verlieren wir den Blick für die Wahrheit und handeln oft aus Angst und Konditionierung heraus. Eine Praxis, die uns dabei helfen kann, ist es, einfach innezuhalten, unsere Gedanken zu beobachten und sie vorbeiziehen zu lassen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren.

Satya in Beziehungen

Ehrlich zu uns selbst zu sein ist oft schon eine Herausforderung, doch noch schwieriger kann es sein, in Beziehungen vollkommen ehrlich zu sein. Ob in romantischen Partnerschaften, Freundschaften oder der Familie – Ehrlichkeit ist das Fundament jeder starken Beziehung. Wenn andere wissen, dass sie sich auf unsere Wahrhaftigkeit verlassen können, entsteht Vertrauen und die Basis für eine tiefere, ehrlichere Verbindung.

Satya im Alltag

Im Alltag kann geübt werden, die Urteile des Geistes von objektiven Tatsachen zu trennen.

  • Es lohnt sich, darauf zu achten, wie gesprochen wird, welche Gedanken über sich selbst und andere aufkommen und wie die Selbstpräsentation in Gesprächen erfolgt.
  • Ein Ziel könnte darin bestehen, die Kommunikation achtsamer und präziser zu gestalten.
  • Welche positiven Veränderungen zeigen sich dabei?

3. Asteya: Die Praxis des Nicht-Stehlens

Asteya, das dritte Yama in den Yoga Sutras von Patanjali, wird häufig als „Nicht-Stehlen“ übersetzt. Doch genau wie bei den anderen Yamas bedeutet es weit mehr als nur das physische Unterlassen, jemandem etwas wegzunehmen. Es fordert uns auf, in Gedanken, Worten und Taten frei von Gier und Mangeldenken zu leben. Das Sutra sagt: „Asteya Pratisthayam Sarva Ratna Upasthanam“, was so viel bedeutet wie: „Wenn Nicht-Stehlen (Asteya) etabliert ist, kommen alle Juwelen und Schätze von selbst zu einem.“ Anders ausgedrückt: „Wenn das Herz rein ist, wird alles, was wir brauchen, von selbst kommen.“

Asteya lehrt uns, dass Diebstahl oft aus einem Gefühl von Mangel oder Unzulänglichkeit heraus entsteht. Wenn wir uns zu sehr mit unserem begrenzten Selbst, unserem Ego, identifizieren, fühlen wir uns oft unvollständig und wollen Dinge von außerhalb – ob materielle Dinge, Beziehungen oder Anerkennung. Wenn wir jedoch erkennen, dass unsere wahre Natur Fülle ist, beginnt Asteya wie eine innere Quelle des Reichtums zu wirken, die keiner Hinzufügung bedarf.

Die tiefere Ursache von Asteya und die Praxis der Fülle

Der Wunsch, von anderen etwas zu nehmen, entspringt oft dem Gefühl der Unzufriedenheit und dem Glauben, dass wir selbst nicht genug sind. Dieser Gedanke führt uns dazu, Dinge im Außen zu begehren, sei es Besitz, Erfolg oder sogar die Anerkennung anderer. Ohne Asteya laufen wir Gefahr, uns berechtigt zu fühlen, Dinge zu nehmen, die uns nicht gehören – seien es materielle Güter oder immaterielle Dinge wie Ideen oder Beziehungen. Das wiederum führt zu Unzufriedenheit, Eifersucht und Missgunst.

Asteya lädt uns ein, uns auf die Fülle in unserem Leben zu konzentrieren und das zu schätzen, was wir haben. In der täglichen Praxis bedeutet das, Dankbarkeit und Großzügigkeit zu kultivieren, statt uns von Mangelgedanken beherrschen zu lassen. Wenn wir erkennen, dass wir genug sind und genug haben, gewinnen wir das Gefühl von Ganzheit und Zufriedenheit zurück.

Asteya auf der Yogamatte: Akzeptanz statt Ehrgeiz

Auch auf der Yogamatte können wir Asteya praktizieren, indem wir achtsam mit unseren Grenzen umgehen. Oft spüren wir einen subtilen Drang, eine Asana „perfekt“ auszuführen oder uns mit anderen zu vergleichen. Wenn wir uns über unsere natürliche Grenze hinausdrängen, rauben wir uns die Möglichkeit, präsent zu sein und den Moment zu genießen.

Asteya erinnert uns daran, mit unserer Praxis dort zu sein, wo wir gerade stehen. Die wahre Tiefe des Yoga entsteht nicht durch das Meistern einer Pose, sondern durch die Achtsamkeit, die wir in jede Haltung bringen. Wenn wir uns in der Praxis Akzeptanz und Geduld erlauben, sind wir viel zufriedener und erleben die Praxis als nachhaltig und stärkend.

Asteya im Alltag: Von unnötigem Besitz loslassen

  • Asteya im Alltag bedeutet auch, sich bewusst von unnötigem Besitz zu trennen. Oft neigen wir dazu, Dinge wie Kleidung oder Bücher anzuhäufen, die wir nie wirklich nutzen. Das ständige Sammeln von Materiellem kann eine Lücke füllen, die in Wahrheit nur innerlich geschlossen werden kann. Indem wir uns von überflüssigen Dingen trennen, schaffen wir Platz – nicht nur in unserem Zuhause, sondern auch in unserem Geist.
  • Fülle erleben bedeutet, zu erkennen, dass genug vorhanden ist und nichts fehlt. Diese Haltung unterstützt dabei, das Verlangen nach mehr loszulassen und sich vollkommen sowie glücklich in sich selbst zu fühlen. Es kann hilfreich sein, sich immer wieder bewusst zu machen, dass sowohl das Leben als auch die eigene Person genug sind.
  • Dankbarkeit kultivieren bedeutet, sich bewusst von Gedanken an Mangel zu distanzieren. Es ist hilfreich, jeden Tag damit zu beginnen, für das, was bereits vorhanden ist, Dankbarkeit zu empfinden. Diese Praxis lenkt den Geist auf die Fülle und fördert das Leben von Asteya.

4. Brahmacharya: Maß halten und Balance finden

Das 4. Yama in den Yoga Sutras von Patanjali, Brahmacharya, wird oft als „Maßhalten“ oder „Sinnesentlastung“ übersetzt. Wörtlich bedeutet es jedoch „sich in der Unermesslichkeit bewegen“ oder „in der Realität leben“. Brahmacharya fordert uns auf, in Körper, Geist und Sprache maßvoll zu sein, und lehrt, dass ein ausgewogenes Leben zu größerem Wohlbefinden und innerer Klarheit führt.

Patanjali beschreibt Brahmacharya als Quelle für die Entwicklung von Wissen, Kraft und Seelenfrieden. Übermäßiger Genuss – sei es von Essen, sozialen Interaktionen oder anderen Sinneserfahrungen – lenkt uns oft von innerem Wachstum ab. Indem wir lernen, Maß zu halten und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, können wir mehr Energie für das entwickeln, was wirklich zählt.

Brahmacharya und das Missverständnis des Zölibats

Brahmacharya wird manchmal als „Zölibat“ interpretiert, was auf die Tradition zurückgeht, dass viele Yogis in Abgeschiedenheit lebten und oft eine asketische Lebensweise führten. Doch in seiner modernen Auslegung bedeutet Brahmacharya kein völliges Verzichten, sondern ein achtsames Maßhalten – die Balance zwischen Genuss und Zurückhaltung. Dies kann bedeuten, dass wir die Heiligkeit bestimmter Handlungen, wie Sexualität oder Essen, anerkennen und respektvoll damit umgehen.

Die Worte „Brahman“ (das Absolute oder Göttliche) und „Charya“ (Leben) zeigen, dass Brahmacharya uns dazu einlädt, das Leben in seiner Essenz zu erleben und uns auf das Göttliche oder das Absolute zu konzentrieren. Anstatt uns von kurzfristigem Genuss ablenken zu lassen, lernen wir, unser Energiepotenzial in eine Richtung zu lenken, die uns innere Stärke und Seelenfrieden bringt.

Brahmacharya in Deinem Alltag

Um Brahmacharya im Leben zu praktizieren, können folgende Fragen hilfreich sein:

  • In welchen Bereichen des Lebens gibt es übermäßigen Genuss?
  • In welchen Bereichen könnte mehr Maß gehalten werden?
  • In welchen Aspekten des Lebens wird mehr Balance gewünscht?

Praktische Übungen zur Sinnesentlastung

Brahmacharya lädt dazu ein, im Alltag kleine Veränderungen vorzunehmen, um Balance zu schaffen und Übermaß zu reduzieren. Einige konkrete Möglichkeiten, dies zu üben, sind:

  • Achtsam essen: Wer dazu neigt, zu viel Zucker oder ungesunde Lebensmittel zu konsumieren, könnte sich eine Woche Zeit nehmen, bewusst darauf zu verzichten. Es ist hilfreich, zu beobachten, wie sich dies auf das Wohlbefinden auswirkt und mit einer Ernährung zu experimentieren, die nährt und ausgleicht.
  • Emotionale Balance: Ist das Leben häufig von intensiven Emotionen geprägt, kann daran gearbeitet werden, Ruhe und Gelassenheit zu entwickeln. Achtsames Atmen, Meditation oder Tagebuchschreiben unterstützen dabei, emotional ausgeglichener zu werden.
  • Soziale Balance: Wer sehr sozial ist und viel spricht, könnte einen Tag in Stille verbringen. Diese Zeit kann genutzt werden, um die Gedanken zu ordnen und die innere Welt zu erforschen. Ein Tag des Schweigens oder Fastens kann überraschend erfrischend wirken.
  • Balance auf der Yogamatte: Es lohnt sich zu hinterfragen, ob die Yogapraxis einseitig ist. Ist die Praxis sehr aktiv, könnte mehr Meditation integriert werden. Wer viel meditiert, könnte mehr körperliche Asanas ergänzen, um eine ganzheitliche, ausbalancierte Praxis zu schaffen.

5. Aparigraha: Bescheidenheit und die Freiheit des Loslassens

Aparigraha, das fünfte Yama in Patanjalis Yoga Sutras, erinnert uns daran, Bescheidenheit in all ihren Facetten zu pflegen und loszulassen, was uns unnötig bindet. Während Aparigraha oft mit „Nicht-Besitzen“ oder „Nicht-Anhäufen“ übersetzt wird, geht seine Bedeutung über materiellen Besitz hinaus. Es fordert uns auf, auch gedankliche und emotionale Lasten loszulassen, um freier zu leben und inneren Frieden zu finden.

Patanjali selbst beschreibt die Tugend des Aparigraha so: „Wenn der Yogi in Nicht-Besitzen verankert ist, wird er das wahre Verständnis aller Zusammenhänge erlangen.“ Indem wir uns von dem Drang befreien, immer mehr anzuhäufen und zu behalten, schaffen wir Raum für Selbstreflexion, Meditation und inneres Wachstum.

Die Geschichte des Yogi im Wald: Was Loslassen wirklich bedeutet

Eine bekannte Geschichte verdeutlicht die Essenz von Aparigraha: Ein Yogi, der in Einsamkeit im Wald lebt, stellt eines Tages fest, dass einer seiner beiden Töpfe gestohlen wurde. Statt in Wut zu verfallen, verfolgt er den Dieb und übergibt ihm auch den verbliebenen Topf, in dem Glauben, dass der Dieb ihn nötiger braucht als er selbst. Diese einfache Geste zeigt, wie sehr Loslassen von Besitz eine Quelle der Freiheit und des Mitgefühls sein kann.

Aparigraha in der heutigen Welt: Worum es wirklich geht

In einer Welt, in der Konsum und Besitz oft als Lebensziele verstanden werden, lädt uns Aparigraha dazu ein, innezuhalten und zu hinterfragen, was wir wirklich brauchen. Statt uns von den Zwängen des Anhäufens vereinnahmen zu lassen, lernen wir, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. So wie der Yogi im Wald können wir uns immer wieder fragen: „Brauche ich das wirklich?“ Aparigraha erinnert uns daran, dass materieller Besitz und das Festhalten an alten Denkmustern uns oft mehr belasten als bereichern.

Aparigraha in Deinem Alltag

Um Aparigraha zu üben, können einige dieser Reflexionen und Übungen hilfreich sein:

  • Loslassen von Besitz: Es kann gefragt werden, ob materielle Gegenstände vorhanden sind, die nicht wirklich gebraucht werden. Der Kleiderschrank, Regale und Schubladen könnten überprüft werden – wie viele Dinge liegen dort, die nur verstauben? Das Ausmisten kann eine befreiende Erfahrung sein, da nur das behalten wird, was wirklich nützt und Freude bereitet.
  • Alte Glaubensmuster und emotionale Lasten loslassen: Aparigraha geht über materiellen Besitz hinaus. Auch alte Glaubenssätze, Vorurteile und Groll können losgelassen werden. Es kann hilfreich sein, sich von Denkmustern zu verabschieden, die klein halten, und sich darin zu üben, anderen und sich selbst zu vergeben. Das Festhalten an alten Streitigkeiten sollte vermieden werden – je mehr losgelassen wird, desto mehr Raum entsteht für Heilung und Wachstum.
  • Von einer höheren Perspektive aus beobachten: Eine spielerische Übung könnte darin bestehen, sich vorzustellen, ein außerirdisches Wesen zu sein, das die Menschheit aus der Distanz betrachtet. Diese Perspektive hilft, die Dinge weniger ernst zu nehmen und mit Gelassenheit auf menschliche Gewohnheiten und Besitztümer zu schauen.
  • Dankbarkeit statt Mangelgefühl: Das Loslassen von Besitztümern und belastenden Gedanken fällt leichter, wenn der Fokus auf dem liegt, was bereits vorhanden ist. Dankbarkeit hilft, die Fülle des Augenblicks zu erkennen und mindert das Bedürfnis nach mehr. Es kann zur Gewohnheit werden, am Ende jedes Tages drei Dinge aufzuschreiben, für die Dankbarkeit empfunden wird.

Die Yamas: von der Yogamatte in den Alltag

Die Yamas sind nicht nur ethische Prinzipien, die unser Verhalten lenken, sondern tief verwurzelte Werkzeuge, die uns helfen, ein Leben in Einklang mit uns selbst und der Welt um uns herum zu führen. Sie fordern uns heraus, bewusst und achtsam in jeder Handlung zu sein – sei es im Umgang mit anderen, in der Selbstreflexion oder in der Art und Weise, wie wir uns und unsere Umwelt wahrnehmen. Indem wir Ahimsa, Satya, Asteya, Brahmacharya und Aparigraha in unserem Alltag praktizieren, öffnen wir uns für mehr Mitgefühl, Wahrheit und Harmonie.

Diese Prinzipien mögen zu Beginn eine Herausforderung darstellen, doch mit jedem Schritt, den wir bewusst in Richtung dieser Werte gehen, kommen wir uns selbst näher und bringen mehr Frieden und Ausgeglichenheit in unser Leben. Yoga ist mehr als eine körperliche Praxis – es ist ein Weg, der in uns selbst beginnt und der die Fähigkeit zur Transformation in alle Bereiche unseres Lebens mit sich bringt. 

Die Reise, die Patanjali in den Yoga Sutras beschreibt, lädt uns ein, die Yamas nicht nur auf der Matte zu praktizieren, sondern in jedem Moment unseres Lebens zu leben. Beginne heute, indem du dir bewusst machst, wie du mit dir selbst und mit anderen umgehst – und erlaube den Yamas, dich auf deinem Weg zu innerem Frieden und einem erfüllten Leben zu begleiten.

Autorinnen: Tamara Miriam Bäuerle & Dominique Korz

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Veröffentlicht in Yoga